Corona-Krise – und “gezwungen Gott zu spielen”?

Wer dem Geringen Gewalt tut, lästert dessen Schöpfer; aber wer sich des Armen erbarmt, der ehrt Gott.

Sprüche Salomos 14,31  (Luther 1984)

Die Situation ist nicht in jedem europäischen Land dieselbe, doch in einigen Spitälern ist die Not gross – wird täglich grösser. Schwerkranke benötigen die Beatmungsmaschinen 14 Tage lang, doch es gibt nicht genügend; ein Londoner Spital hat jetzt beschlossen: Corona-Erkrankte erhalten nur noch dann Intensivpflege, wenn “ziemlich sicher” ist, dass sie überleben werden. Hinzu kommt, dass sich teilweise 25% der Pflegekräfte bei der Arbeit angesteckt haben und ausfallen; wer den Ernst der Lage anzweifelt, möge Ärzte und Pflegekräfte fragen.

Eine Ärztin hat jetzt die zweite Woche ihr Tagebuch veröffentlicht. Angesichts eines Tsunami an neuen Corona-Patienten stehen Ärzte am Rande des Zusammenbruchs; es sei wie im Krieg. Und dann schreibt sie: “Die Zahl der Patienten, die ein Beatmungsgerät benötigen, ist überwältigend. Bekommen sie nicht bald eines, könnten sie sterben. … Jetzt bin ich gezwungen Gott zu spielen. Eine liebenswürdige Dame in den 80-ern hat Mühe mit der Beatmungsmaschine zu atmen. Ich kann nichts machen, um ihr zu helfen – und wegen ihrer Vorerkrankungen und des Alters wegen, ist sie schlicht keine Kandidatin für die Intensivpflegestation. Klingt herzlos, nicht wahr? Aber nebenan liegen elf andere, die dringend auf ihre Atemmaske warten. … So schmerzhaft es auch ist, so weiss ich doch, dass die anderen elf Personen alle eine bessere Überlebenschance haben als sie. Es wäre Torheit, die Frau in Intensivpflege zu nehmen. Ich rufe ihre Tochter an … Doch niemand möchte am Telephon erfahren, dass das Spital ihre Mutter sterben lassen muss. … sie starb in der Nacht. Es ist einfach, Sterbestatistiken zu ignorieren. Doch jeder der stirbt, ist jemand für jemanden. Sie war Mutter und Grossmutter …”

In den Tagen von Corona denken wir in Zahlen von Hunderten, Tausenden, gar Millionen – doch Leid betrifft immer Einzelne: den Nachbarn, den Kollegen, meine Familie. Die Verfassung unseres Kantons Basel-Landschaft sagt in der Präambel: “die Stärke des Volkes misst sich am Wohle der Schwachen”, und das wird diese Tage auch zitiert; es will ernst genommen werden. Doch wem ist zutiefst bewusst, dass dieser Satz nur Sinn macht, weil es zuvor heisst: »eingedenk (unserer) Verantwortung vor Gott«?

Dass wir uns um die Schwachen kümmern wollen, ist keine Schlussfolgerung auf Grund von Aufklärung oder Evolutionstheorie; beide kennen keine Fürsorge für den Schwachen. Die Wurzeln gründen einzig in der jüdisch-christlichen Ethik. Und die hat ihr Fundament in der Heiligen Schrift. Dort hören wir (siehe oben!), dass es Gotteslästerung ist, den Schwachen und Geringen zu vernachlässigen oder ihn gar zu unterdrücken.

Angesichts der Corona-Krise ist es verständlich, wenn jetzt von »Solidarität« gesprochen wird. Egoismus und Gleichgültigkeit sind die Feinde jeglicher »Solidarität«. Wenn diese jedoch nur materiell gesehen wird, oder nur auf die nötige medizinische Versorgung ausgerichtet ist, dann geht selbst »Solidarität« am Kern vorbei. Wir sind nicht nur »Leib«, und – obwohl oft behauptet – Gesundheit ist nicht »alles«, nicht »das Wichtigste«! Der Mensch hat als Geschöpf Gottes eine Seele, er ist auf Gott hin angelegt. Das geht heute oft vergessen, und nicht nur am Sterbebett von Corona-Patienten.

In einem Büchlein über das rechte christliche Verhalten in Zeiten grassierender Pestilenz schreibt Martin Luther einiges zur Vorbereitung aufs Sterben. «Überschwemmt die Seuche das Land, und ruft man den Seelsorger erst kurz vor dem Tod, so kann nicht jeder betreut werden.» Deshalb – so Luther – «möge sich jeder rechtzeitig auf sein Sterben vorbereiten, sein Haus bestellen und Gottes Vergebung und Gnade suchen. Unsere Seele braucht Frieden mit Gott!»

© Pfarrer Reinhard Möller