Corona-Krise – aber sicher ohne Altersdiskriminierung?

“Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren und sollst dich fürchten vor deinem Gott; ich bin der HERR.”

3. Mose 19,32  (Luther 1984)

Ab sofort – so lese ich heute in der Tageszeitung – dürfen über 65-jährige nicht mehr bei der Zeitungszustellung eingesetzt werden, so eine Weisung des Bundesamtes für Gesundheit. Was aber, wenn diese Tätigkeit für den Lebensunterhalt entscheidend ist? Kein Wort dazu.* Im Kanton Uri gibt es seit dem 19.3. abends ab 18.00 Uhr eine Ausgangssperre für Senioren. Und auch andernorts gibt es diverse Empfehlungen für über 65-jährige, in der Regel aus klaren medizinischen Gründen. In Grossbritannien wird die Altersgrenze für aktuelle Weisungen mit 70 angegeben, weshalb plötzlich viele erst 68 oder 69 Jahre alt sind; dazu muss man wissen, dass es dort weder eine Ausweispflicht, noch Personalausweise gibt. Doch grad dort tauchte das Wort »Altersdiskriminierung« jetzt in der öffentlichen Diskussion wieder auf.

Zwar sucht sich das Virus die Menschen nicht nach deren Alter aus, doch sind ältere in der Tat in Bezug auf einige Krankheiten anfälliger. Der gegenwärtige Verlauf der Corona-Erkrankungen führt wohl eher bei älteren Menschen zum Tod, doch es sind auch viele jüngere betroffen, nicht nur aus den Risikogruppen. Trotzdem stehen bei uns plötzlich die Senioren im Zentrum der Aufmerksamkeit: Sie sollen Schutz und Unterstützung erfahren.

Diese Haltung wurzelt zutiefst in der jüdisch-christlichen Ethik. Dort ist die Ehrfurcht vor den Betagten eng mit der Ehrfurcht vor dem Schöpfer verknüpft. Der Wert des Einzelnen gründet in dem Wert, den der lebendige Gott uns Menschen beimisst. Wir sind nicht Kinder des Zufalls, nicht einem evolutionären Stammbaum entsprungen. Sondern Gott schenkt und erhält Leben, und vor IHM ist das Leben jedes Einzelnen wertvoll – auch das von Kranken, Behinderten und Alten. Weil wir IHM kostbar sind und weil ER all unsere Tage kennt, deshalb vertrauen wir als Christen IHM auch in Bezug auf jeden neuen Tag. Und dies Vertrauen schenkt Gewissheit auch über den letzten Tag hinaus!

Allerdings haben viele diese Hoffnung nicht, teilen die christlichen Werte nicht. Und am Horizont zeigen sich Ansätze deutlicher Altersdiskiminierung: Angesichts der Überbelastung der Krankenhäuser in einzelnen Regionen der Welt wird gesagt, dass Patienten ab eines gewissen Alters keine volle medizinische Versorgung mehr erhalten sollen. Einzelne Beispiele sind erschreckend; und die individuelle Not wird dadurch grösser, weil Angehörige auf Grund des Risikos der Ansteckung die Sterbenden nicht stärken, ihnen nicht die Hand halten dürfen. – Hier bei uns in der Schweiz sehen einzelne Mitmenschen die Krankheitswelle gar als “Chance für uns alle”, denn durch die Corona-Krise “kann die Überbevölkerung … reduziert werden”, so dass in der Folge die Lebensqualität und die Natur nur “gewinnen” (Leserbrief, bz, 20.3.2020, S. 29). Soll die weltweite Pandemie jetzt keine Not mehr sein und das Corona-Virus plötzlich gar zum Retter unseres Planeten werden?

Ein Psalmist betet: »Bis ins Alter verlass mich nicht, Gott, wenn ich grau werde, damit ich den Zeitgenossen Deine Werke bezeugen kann …« (Psalm 71,18). Und der ewig-verlässliche Gott antwortet: »Auch bis in euer Alter bin ich derselbe, und ich will euch tragen, bis ihr grau werdet. Ich habe es getan; ich will halten, tragen und erretten.« (Jesaja 46,4). Wunderbar!

© Pfarrer Reinhard Möller

* Auch kein Wort zur rechtlichen Grundlage dieser Weisung. – An anderer Stelle derselben Zeitung (bz, 20.3.2020, S. 6) meint der frühere Professor für Staats- und Völkerrecht, Prof. Rainer J. Schweizer: “Die Schweizer Behörden müssen jetzt zu Massnahmen greifen, die nicht auf die Bundesverfassung abgestützt werden können.”; sprich: Behörden (!) dürften angesichts der Corona-Krise nach eigenem Ermessen das geltende Recht brechen …

Nachtrag vom 21.3.2020: Der Regierungsrat von Uri hat auf Grund eines Entscheids des Bundesrates die Ausgangssperre für Senioren inzwischen wieder aufgehoben.